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Jahrelang galt es als bewiesen, dass Kreuzverschlag durch eine Übersäuerung der Muskeln hervorgerufen wird.
Neue Studien zeigen aber, dass diese Theorie nicht stimmt. In Wahrheit zerfallen während der Krankheit Muskelzellen
– die Ursachen dafür sind unterschiedlich.
Es war die kürzeste Zeit, die Frank Rottmann*
(*Name geändert) jemals ein Pferd
besessen hatte. Die Quarter Horse Stute
„Stars ’n Glory“ lebte nicht einmal lange genug,
um sich als Besitzer auf ihrem Papier eintragen
zu lassen. Rottmann kaufte das Pferd bei einem
Händler – für einen Spottpreis von 4000 Euro,
der ihm so gar nicht angemessen erschien für
eine achtjährige Stute aus der begehrten Wieskamp-
Linie. „Ich glaubte ehrlich, den Händler
übers Ohr gehauen zu haben“, erinnert sich der
Westernreiter bitter. „Dabei war es genau anders
herum.“
Denn „Glory“ hatte höchstwahrscheinlich bereits
mehrere Kreuzverschläge hinter sich. Eine
Woche lang ritt Rottmann sie jeden Tag eine
halbe Stunde locker im Gelände. Dann begleitete
er seine Frau zu einem Familienfest und ließ
das Pferd in der Box stehen.
„Als wir am darauf folgenden Tag ausritten,
ging Glory schon nach 200 Metern klamm. Nach
500 Metern blieb sie mit brettharten Flanken
schwitzend stehen und rührte sich nicht mehr.
Unendlich langsam führte ich sie zurück zum
Stall während meine Frau den Tierarzt rief.“ Dieser
kurze Weg nach Hause konnte am Ende das
Zünglein an der Waage gewesen sein. Denn ein
Pferd mit einem so schlimmen Kreuzverschlag,
wie Glory ihn hatte, darf keinen Millimeter mehr
bewegt werden.
Der Tierarzt bestätigte die Diagnose, nahm eine
Blutprobe und spritzte Entzündungshemmer
sowie ein Schmerzmittel. Warm eingedeckt landete
Glory dann wieder in ihrer Box zur Beobachtung.
„Abends rief der Tierarzt an und sagte, die Blutprobe
wäre katastrophal und er wolle gleich
noch einmal nach dem Pferd sehen“, erinnert
sich der Besitzer. „Wir trafen uns zwei Stunden
später im Stall. Da lag Glory schon in der Box
fest, bekam Infusionen und hatte augenscheinlich
schreckliche Schmerzen.“ Die ganze Nacht
durch kämpften das Pferd und die beiden Tierärzte
im Schichtdienst. Am frühen Morgen entschied
Rottmann, das Pferd einzuschläfern. „Ich
habe noch nie ein Pferd so leiden sehen“, sagt
er heute noch kopfschüttelnd.
Selber schuld, möchte man nun sagen, wenn
man diese Geschichte hört. Immerhin hatte die
Quarterstute einen Stehtag. Eines aber passt
nicht in die Geschichte vom übersteigerten
Muskelkater: Glory sollte abnehmen und bekam
nur Heu zu fressen. Außerdem war sie nicht im
Training. Die halbe Stunde im Gelände war sie
fast nur Schritt gegangen. Beim Händler hatte
sie keine Koppel gehabt. Woher also sollte all
das Glykogen kommen, das durch seine Abbauprodukte
angeblich die Muskeln derart übersäuert,
dass Verschlag ausbricht?
Bisher galt folgende Theorie: Durch das Kraftfutter
nimmt das Pferd Kohlenhydrate auf. Diese
werden vom Körper in Glucose umgewandelt
und als Glycogen in den Muskeln gespeichert.
Bei Bewegung wird das Glycogen durch Sauerstoff
abgebaut und es entsteht Laktat. Kann
dieses nicht zur Genüge entsorgt werden, so
übersäuert der Muskel und es kommt zum Verschlag.
Ganz besonders nach einem Stehtag
mit anschließender Bewegung, nahm man an,
müsse eine enorme Menge an Glycogen und
dementsprechend auch Laktat im Blut enthalten
sein.
Dem ist aber nicht so. Jedes Pferd in Bewegung
weist eine gewisse Laktat-Konzentration auf.
Eines mit Kreuzverschlag aber nicht mehr als
ein gesundes. „Die Theorie von der Übersäuerung
der Muskulatur ist inzwischen gründlich
widerlegt“, sagt der Fachtierarzt für Pferde, Dr.
Christian Bingold von der Pferdeklinik Großostheim.
„Sie geistert aber immer noch hartnäckig
durch die Pferdeszene. Auch die auf dieser
Theorie beruhende Behandlung mittels Infusion
von Bicarbonatlösung ist, wie inzwischen eindeutig
bewiesen, völliger Unfug!“ Es gibt kaum
ein Fachbuch, kaum einen FN-Fortbildungskurs,
wo der Kreuzverschlag nicht im falschen, inzwischen
veralteten Sinn erklärt wird.
Was tatsächlich in den Muskeln eines erkrankten
Pferdes passiert, ist noch nicht differenziert
erforscht. „Fest steht aber, dass Muskelzellen
zerfallen“, weiß Dr. Bingold. „Deren Bestandteile
geraten in den Blutkreislauf. Die sehr großen
Moleküle des Blut-Farbstoffs Myoglobin verstopfen
in besonders schlimmen Fällen die Filter
in der Niere. Wenn in so einem Fall nicht durch
eine Infusion zusätzliche Flüssigkeit zugeführt
wird um die Niere zu spülen, so versagt das Organ,
was zum Tode des Pferdes führt.“
Wenn der Harn des Pferdes durch den Farbstoff
des Myoglobins eine Cola-ähnliche Farbe
annimmt, so ist das ein Zeichen dafür, dass die
Niere in höchster Gefahr ist.
Nicht jeder Kreuzverschlag muss so enden.
Manche Verlaufsformen sind so schwach, dass
der Reiter allenfalls einen etwas steiferen Gang
bemerkt. Viele verschiedene Fachpersonen in
verschiedenen Ländern und Zeiten haben deshalb
der Krankheit unterschiedliche Namen
gegeben: Kreuzverschlag, Verschlag, Feiertagskrankheit,
Schwarze Harnwinde, Myoglobinurie,
Tying up, Lumbago. Heute weiß man, dass all
diese Muskelerkrankungen eine Gemeinsamkeit
haben: Den Zerfall der roten Muskelzellen.
Auf lateinisch: Rhabdomyolyse. Daher wird
von forschenden Tierärzten mittlerweile dieser
Begriff benutzt, wenn es um Kreuzverschlag in
all seinen Variationen geht. „Die Symptome der
genannten Muskelerkrankungen gleichen sich,
die Ursachen aber unterscheiden sich“, sagt Dr.
Christian Bingold.
Die wichtigsten bekannten Erkrankungen sind
akuter Kreuzverschlag (Sporadic exertional
rhabdomyolysis) und chronischer Verschlag
(Chronic exertional rhabdomyolysis). Der
akute Kreuzverschlag (SER) hat die höchsten
Heilungschancen, da er nicht durch eine Muskelstoffwechselstörung
sondern durch Überanstrengung,
falsches Training und Überfütterung
entsteht. Auch während einer unerkannten Herpes-
oder Influenza-Infektion tritt die Krankheit
auf, wenn die geschwächten Pferde trotzdem
belastet werden. Dann wird der Stoffwechsel
innerhalb der Muskeln massiv gestört, was zum
Zerfall der Muskelzellen und schließlich zum
Verschlag führt.
Der chronischer Kreuzverschlag unterteilt sich
in die Unterformen „Reccurent exertional rhabdomyolysis“
(RER) und „Polysaccharid Storage
Myopathie“ (PSSM). In beiden Fällen leiden die
betroffenen Pferde an einer unheilbaren Stoffwechselkrankheit.
Diese ist vererbbar und in einigen
Rassen mehr verankert als in anderen.
„RER ist vor allem ein Vollblüter-Problem“,
weiß Dr. Bingold. „Es hat mit Stress zu tun und
trifft vor allem die hypernervösen, überdrehten
Tiere und da offensichtlich vermehrt die Stuten,
was wohl mit den weiblichen Geschlechtshormonen
zusammenhängt.“ Neben verschiedenen
anderen Faktoren, sind auch Elektrolyt- und
Mineralstoff-Verluste bei den nervösen, schnell
schwitzenden Pferden Auslöser für Kreuzverschlag.
Daher empfiehlt sich bei betroffenen
Tieren die Zufütterung von Vitamin E und Selen
– aber Vorsicht: bei einer Überfütterung drohen
Vergiftungserscheinungen. Also besser einen
Futterfachmann zu Rat ziehen. Da es sich bei
RER nicht um ein Überanspruchungsproblem
handelt, ist der Verlauf des Verschlags meist
weniger heftig als bei der akuten Form. Eine genaue
Diagnose kann nur die Blutprobe geben.
„Die zweite chronische Stoffwechselerkrankung,
PSSM, ist grob ausgedrückt eine Zuckerspeicherkrankheit“,
weiß Dr. Bingold. Sie betrifft
eher ruhige, muskulöse Tiere. Ganz besonders
bei den amerikanischen Westernpferderassen
wie dem eingangs geschilderten Quarter Horse
„Glory“ ist die Veranlagung erbbar. Deshalb
hat die American Quarter Horse Association
bereits mehrere Studien über PSSM in Auftrag
gegeben und bezahlt. Dabei fanden die Ärzte
heraus, dass die Anlage für PSSM als Gen auf
einem bestimmten Chromosom liegt. Allerdings
gibt es bisher keine Möglichkeit, Pferde auf dieses
Gen zu testen. Auch bei PSSM verläuft die
Krankheit in den meisten Fällen milder als im
Fall von Glory. Häufig ist PSSM eher ein Dauerzustand
mit Steifheit und Bewegungsunlustigkeit.
Der Hintergrund der Krankheit ist laut Dr.
Bingold eine ungewöhnlich hohe Aufnahme von
Polysacchariden (Zuckern) in die Muskelzellen.
Der Grund dafür scheint eine erhöhte Insulinempfindlichkeit
der Muskelzellen zu sein. Warum
der erhöhte Zuckerspiegel zur Erkrankung
führt, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.
Egal welche Form von Kreuzverschlag ein Pferd
befällt – beim ersten Anzeichen sollte der Besitzer
den Tierarzt rufen. Zeigt das Pferd auffällige
Steifheiten und Schmerzen bei der Bewegung,
so sollte der Reiter sofort absteigen und das
Pferd mit dem Transporter abholen lassen. Bis
der Tierarzt eintrifft, warm eindecken (falls das
Pferd überhitzt ist besser kühlen!) und Ruhe
bewahren.
In jedem Fall lässt sich durch das Blutbild eine
erhöhte Konzentration des Enzyms Creatinkinease
(CK) feststellen. Dieses Enzym kommt
im Körper nur in den Muskeln vor. Zerfallen
diese Zellen, so wird CK freigesetzt und ist im
Blut nachweisbar. Eine leichte Erhöhung sollte
Pferdebesitzer jedoch nicht erschrecken, da kleinere
Schwankungen abhängig vom Training des
Pferdes normal sind.
Wird Dr. Bingold zu einem Patienten gerufen,
der auffällige Symptome zeigt, so lässt er in
jedem Fall eine Blutuntersuchung vornehmen.
Bei akuten Verschlägen muss er außerdem
der in den Muskeln entstandenen Entzündung
entgegenwirken. Dafür verabreicht er entzündungshemmende
Mittel wie Equipalazone.
Nicht geeignet ist Cortison, da es Muskelprobleme
sogar fördern kann. Durch die Gabe einer
geringen Menge eines Beruhigungsmittels
wird als erwünschte Nebenwirkung außerdem
die Durchblutung verbessert, da es die Gefäße
öffnet. So können Schadstoffe vom Blut leichter
abtransportiert werden und der Muskel wird mit
Sauerstoff versorgt. Anhand der ermittelten Laborwerte
erfolgt dann die weitere Therapie. Das
Blutbild gibt Aufschluss über die Art und Stärke
des Verschlages sowie über eine eventuelle Unterversorgung
mit bestimmten Mineralstoffen
oder Spurenelementen.
Bei den chronischen Verläufen geht es dem
Fachtierarzt vor allem darum, „die ursächliche
Störung zu managen“. Managen deshalb, weil
eine Stoffwechselerkrankung ja nicht heilbar ist.
Neben einem gezielten Bewegungsprogramm
ohne Überanstrengung und Stehtage empfiehlt
er eine spezielle Diät, bei der Kohlenhydrate
durch Fette ersetzt werden. Betroffene Pferdehalter
sollten jedoch nicht selbst herumköcheln,
sondern den neuen Menüplan einem Tierarzt
oder Futtermittelfachmann überlassen.
Ebenso fehl am Platze ist die alternative Heilbehandlung
eines Kreuzverschlags durch Homöopathie
oder Naturheilkunde im akuten Zustand.
In der Heilphase und zur Vorbeugung kann
jedoch Akupunktur die Muskelschmerzen lindern,
Magnetfelddecken und manuelle Therapie
lockern die Muskulatur. Auch homöopathisch
gibt es einige Mittel, die nach Abklingen der Beschwerden
und als Vorbeugung hilfreich sind.
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